Identitäten und Beikost - Ein Auszug aus dem Forschungstagebuch

Vergangene Woche im Englischkurs. Jeder sollte mit seinem Banknachbar seine Hausaufgaben besprechen, das daraus bestand, einen englischen Nachrichtenartikel mündlich zusammen zu fassen. Das nutzte ich als Möglichkeit, die umfangreiche Netzwerktheorie Theorie von Harrison White zusammen zu fassen. Überraschenderweise entstand in der Erläuterung eine verblüffende Verknüpfung zur Beikosteinführung. 

 

 

Mein Banknachbar, ein Student des ersten Semesters Ökonomie. Ich fing also an und versuchte mich darin, die komplizierte Netzwerktheorie von White wieder zu geben. 

Identity and control von Harrison White ist eine Netzwerktheorie, die untersucht, inwiefern soziale Formationen entstehen. Das war noch einfach, es war ja schließlich der Titel des Buches. Also weiter. Ich versuchte Whites Auffassung von Identität zu erklären. Wir sind ja vieles. Also jeder Mensch vereint in sich viele Identitäten. Wir sind Deutsch. Wir sind muslimisch. Oder christlich, atheistisch. Wir sind Töchter, wir sind Söhne usw. Wir haben also viele Identitäten. Aber da merkte ich, dass das als Beschreibung nicht ausreicht, bzw. welche Reichweite Whites Auffassung von Identität hat. So ergänzte ich, dass für White Identitäten nichts mit Menschen zu tun hat. Also nicht in erster Linie. Menschen, oder Personen sind ein Bündel von Identitäten. Wir sind also Tochter oder Sohn, wir sind Studenten usw. Um das „control“ zu erklären, dass ohne das „footing“, so in Whites Erklärung, nicht auskommt, meinte ich, dass wir ja alle Unsicherheiten haben, also wenn wir in einer Identität unsicher sind, suchen wir nach einem Halt. Da merkte ich schon, dass mein Banknachbar sich ausklinkte, klingt ja auch sehr abstrakt. Also suchte ich nach einem Beispiel. Ich erzählte von meiner Tochter, anderthalb Jahre, er wurde wieder hellhörig. Marie braucht ja noch Hilfe beim Essen. Ihre „Identität“, in der Form, wie man isst, ist noch unsicher. Das spüre vor allem ich, wenn das Essen umherfliegt, und löst in ihr (in mir auch! Ich fange an, meine Identität des Essens zu hinterfragen! Wie viel Ritual, wie viel „Erziehung“ steckt dahinter?) eine Unsicherheit aus. Sie spürt eine Unsicherheit in ihrer „Identität“ des Essens. Also orientiert sie sich an mir. Sie „footet“ (erst im Nachhinein kam ihr auf, wie das Beispiel die Begriffe von Essen und „footing“ verbindet, auch wenn die Bedeutungen auseinander gehen) demnach in meiner Identität des Essens, wenn es um ihre Unsicherheit hinsichtlich der identitären (leider ein sehr belastetes Wort) Dimension des Essens geht. Er verstand es. Und fand es interessant!

 

 

Gerade das „footing“. Denn nicht nur der Suchende, der Kontrollbemühungen vollzieht, empfindet Unsicherheit, sondern auch der, der "gefootet" wird. Nicht immer bewusst, zumindest aber unbewusst. Und es zeigt in wunderbarer Weise die relationale Dimension des Ganzen auf. Die Relationalität! Identitäten entstehen demnach aus Unsicherheiten, dass dazu führt, dass wir Kontrollbemühungen in dieser Richtung ausführen. Dabei ist interessant, wer eigentlich die Unsicherheit auslöst. Ist es jemand selbst oder nicht erst die Umgebung, in der wir uns befinden? Wenn in der Schule Wissen aufgezeigt wird, wird Schülern bewusst, was sie alles nicht wissen. Unsicherheit entsteht und in jedem Fall das Bestreben, diese Unsicherheit zu bewältigen. Weiter gedacht wird je nach Sozialisation diese Bewältigung auf jeden Fall im "footing" anderer Identitäten vollzogen. Der eine Schüler wird sich in die Hausaufgaben stürzen, lernen, was das Zeug hält, danach streben, am Lehrer orientierend, das "footing" des Wissens zu vollziehen. Ein anderer Schüler wird mit Sicherheit woanders das "footing" vollziehen. Die Ebene des Unbewussten spielt mit hinein, so kann die Kontrollbemühung dieser unsicheren Identität auch außerhalb der Schule geschehen. So war es bei mir. In der 12. Klasse nahm die Unsicherheit des Wissens, die Befürchtung, das Abitur nicht zu schaffen, zu. Anstatt in der Schule, oder im Kontext von Schule das "footing", also die Unsicherheit auszubügeln zu suchen, orientierte ich mich außerhalb. Ich wurde Leistungssportlerin, schaffte es bis zu den Weltmeisterschaften und gewann ein Turnier nach dem anderen. Das Abitur habe ich nicht geschafft. Ich bin durchgefallen. Endgültig nicht bestanden. Mir blieb nur noch das Fachabitur. Aus Sicht des Systems Schule war ich aus dem System raus gefallen, ein Risiko, ich war gescheitert. Oder besser gesagt: ich wurde als gescheitert eingestuft. Doch rückblickend habe ich wie jeder andere Schüler "gefootet", nur nicht da, wo andere es erwartet haben. Besorgniserregend wären viel eher Schüler und Menschen im Allgemeinen, die in einer stetigen Unsicherheit leben, weil dieses "footing" aus welchen Gründen auch immer nicht realisiert werden kann.