Ein Jahr wirklich ohne dich

Schon länger denke ich darüber nach, ob es angemessen erscheint, private Einblicke auf einer vermeintlich beruflichen Blogseite zu teilen. Doch ich sehe mich, ich sehe andere Menschen, gerade die, die vorrangig mit Menschen arbeiten, in ihrer Präsenz ganzheitlich. Es hängt alles zusammen. Ohne meine Kindheit, ohne meine Geschichte, wäre ich nicht die Person, die ich heute bin. Und auch nicht die „Wissenschaftlerin“, die „Pädagogin“, die „Mama“, die „Ehefrau“, die „Freundin“, die ich heute bin. Um so wichtiger ist es im Kontext sozialer Arbeitsverhältnisse sich seiner eigenen Erlebnisse und Prägungen bewusst zu sein. Ich sehe es nicht als „Schwäche“ oder „Nachteil“ oder „Verletzbarkeit“. Zeit meines Lebens habe ich daran gearbeitet, das Erlebte, das daraus zeitweise entwickelte eher schädigende Verhalten, dass ich wieder überwand, in eine Stärke umzuwandeln. Ein wunderbar passendes Zitat dazu, auf das ich gestern gestoßen bin. Es versinnbildlicht meine grundlegende Lebensphilosophie und hat mich früher unbewusst, heute bewusst (!) immer weitergebracht, hält mich stetig dazu an, an meinem Charakter, an meiner privaten wie auch beruflichen Haltung fortwährend zu arbeiten und  hat mir letztendlich zu mehr Glückseligkeit verholfen:


Eine Wunde ist ein Ort, über den das Licht in Dich eindringt.

 

(Rumi)


Liebe Mama,

 

dein erster Todestag ist da. Ein Jahr wirklich ohne dich. Das wohl erste Jahr, in dem du körperlich nicht existent bist. Doch deine mentale Präsenz war noch nie so stark. Ich habe in diesem Jahr wohl öfter an dich gedacht, als die vergangenen 20 Jahre. Das mag wirr klingen, aber ich musste, ich wollte mich schon oft von dir verabschieden und habe es auch immer wieder getan. Nachvollziehbarer wird es mit deiner Krankheit, die dich dein ganzes Erwachsenenalter begleitete. Genauer gesagt begann deine Krankheit kurz nach der Geburt deines zweiten Kindes: mir. Ich war gerade 8 Monate alt geworden, als du zum dritten Mal schwanger wurdest. Schon zu Beginn deiner zweiten Schwangerschaft, wo ich in deinem Bauch wuchs, warst du stark am Zweifeln, ein zweites Kind dein Eigen zu nennen. Alles war schon terminiert, eigentlich wolltest du abbrechen. Doch mein Vater und meine Schwester sprachen viel mit dir, du hast dich um entschieden, 24 Stunden vor dem Abtreibungstermin. Das nun erwartete dritte Kind aber war für dich nicht möglich. Du warst sehr unglücklich, vielleicht spürtest du irgendwie schon, dass etwas nicht stimmt. Der Abbruch hatte Folgen. Deine Psyche geriet aus dem Gleichgewicht. Die unglückliche Ehe, die verkannte Herausforderung, sein Heimatland zu verlassen, der Abbruch und deine bis dato noch unerkannte genetische Belastung brachten dich in deine erste Psychose. Dein Sohn zählte vier Jahre, deine Tochter anderthalb. Ein langer Aufenthalt im Krankenhaus sollte Abhilfe schaffen. Mein Vater wusste nicht, was es war, was mit dir geschah. Überhaupt war es eine Zeit – Mitte der 80er Jahre – in denen psychische Beeinträchtigungen noch sehr unverstanden, sehr unterdrückt und wenig Bewusstsein für diese Beeinträchtigungen vorhanden war. Ich kann mich zwar nicht erinnern, aber deine Tagebücher und die Erzählungen meines Vaters verrieten mir, dass ich sehr unter der Trennung litt. Albträume, das Daumen nuckeln begann und nächtliches am ganzen Körper zitternd aufgewacht, hatten hier seinen Anfang genommen. Ich „rüttelte“ mich in den Schlaf, das blieb, bis ich 18 Jahre alt wurde. Und wohl auch die unaufhörliche Sehnsucht nach dir. An die kann ich mich gut erinnern. Sie hielt an, bis ich 12 war. Von da an entschied ich mich wahlweise keine Mutter zu haben, dich zu hassen, nichts mehr mit dir zu tun zu haben, damit du mir nicht mehr so weh tun kannst.

 

Über 20 Jahre später bin ich selbst Mama. Das letzte Jahr war sehr ereignisreich. Ich bin wieder schwanger mit dem zweiten Kind, dass gerade in meinem Bauch tobt, als würde es mit mir in die Tasten hauen um das alles aufzuschreiben.

Immerzu wartete ich mit Marie – meiner ersten Tochter – darauf, Parallelen zu spüren. Parallelen, wie es dir mit mir ging. Eine erlebte ich schon. Wegen einer schlimmen Magen-Darm-Erkrankung und dem Schwanger sein musste ich ins Krankenhaus. Marie weinte bitterlich und wollte mich nicht gehen lassen, als ich mit den Sanitätern das Haus verließ. Doch ich konnte nicht anders, ich war total dehydriert und spürte, dass ich dringend Hilfe brauchte. Ich hörte ihr Schreien noch bis zum Krankenwagen. Ich hörte es, fühlte es aber nicht. Mir ging es so schlecht, dass mein Mama Instinkt ausgeschaltet war.

 

„So muss es für dich gewesen sein, Mama. Nie konnte, nie wollte ich, und es war bisher wohl nie gut, nachvollziehen zu können, warum du nicht für mich da sein konntest.“

 

Doch jetzt verstehe ich. Es war nur ein Moment, ein schrecklicher Moment. Das merkte ich im Krankenhaus, als ich die Nacht dort verbringen musste. Am Morgen ging es mir schon besser und ich erinnerte mich an Maries Weinen und alles in mir wollte so schnell wie möglich zu ihr zurück. Lange Zeit wollte ich genau deshalb keine Kinder: damit ihnen nicht das geschieht, was mir geschah. Der Mama Instinkt wurde so laut, dass es wohl auch bei der Genesung half. Nach zwei Tagen und einer Nacht im Krankenhaus ging es wieder nach Hause. Es war „nur“ ein schrecklicher Moment. Doch mit mir hattest du Wochen der Trennung. Ich glaube du hattest auch solche Momente, wie ich es im Krankenhaus hatte. Momente, in denen du das Versagen spürtest, die Unfähigkeit Mama zu sein, weil du all deine Kraft für dich selbst benötigt hast.


Als ich mit Marie schwanger wurde, hatte ich Gott sei Dank die Chance, so viel mit dir aufzuarbeiten, weil du zu diesem Zeitpunkt seit ca. 5 Jahren medikamentös eingestellt warst und wohl zum ersten Mal in deinem Leben deine Krankheit angenommen hattest. Wir konnten heilen, wir fanden wieder zueinander. Sehr zaghaft, aber konsequent. Mit Marie im Bauch und auch danach hatten wir einige sehr lange Gespräche, in denen wir viel aufgearbeitet haben. Ich bin mir nicht sicher, ob du die Dinge so aufarbeiten konntest wie ich. Für mich war es pure Heilung. Zudem, dass ich in einer glücklichen Partnerschaft, in einer zufriedenstellenden beruflichen Position und in einem guten Freundeskreis stand. Alle Voraussetzungen waren gegeben, dass ich mich auf uns, auf zumindest meine Wunden konzentrieren konnte. Bis hin zur Fähigkeit, dich zu sehen. So vollkommen unvollkommen zu sehen. All deine unzähligen Verletzungen, die bis dato nicht verheilt sind, die sogar spürbar körperlich erkennbar waren. Du warst eine gebrochene Frau, die jedoch in ihrem kleinen Heimatdorf wieder etwas Frieden fand. Der Rückzug tat dir gut, die Uhren, die an diesem Ort langsamer ticken, brachten dir eine Ruhe wieder, die wohl lange abwesend war. Als Marie dann da war, warst auch du regelmäßig da und hast dich für mich aufgeopfert und an jeder Stelle geholfen, wo du konntest. Du hast mir dabei geholfen, dass ich meine Masterarbeit fertig stellen konnte. Gemeinsam sind wir zum Druck gefahren, haben es zur Post gebracht, hast dich um Marie gekümmert, so gut, wie es dein Zustand erlaubte. Als möchtest du etwas wieder gut machen. Auch das heilte mich. Ich nahm es dankend an. Nun ein Jahr nach deinem Tod bin ich noch immer traurig, dass wir dich nicht länger haben konnten. Marie wird sich wohl nicht an dich erinnern. Deine zweite Enkeltochter wird auch nicht wissen, wer du bist. Doch wir konnten uns versöhnen nach jahrzehntelangen Streitereien und Kontaktabbrüchen. Ich bekam die Möglichkeit, alle Gegebenheiten dafür, dass wir uns wieder – oder zum ersten Mal? – näher kamen. Als Kind war ich nicht in der Lage zu verstehen, ich wollte nicht verstehen, weil ich spürte, dass mir das vielleicht nicht gut tut. Doch dann verstand ich und konnte verzeihen.

 

 


Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, Mama. Ich bin sehr zuversichtlich, dass es dir jetzt gut geht. Ich träumte von dir. Wir waren an einem schönen Badesee, die Sonne schien, es war angenehm warm. Wir saßen mit deinen Enkelkindern am Strand, sie spielten fröhlich im Wasser. In dich ruhend und zufrieden schautest du auf sie und wir unterhielten uns. „Es geht mir gut, Erzsébet. Es geht mir gut.“